„Nach Schätzungen der internationalen Organisationen, in Bosnien und Herzegowina sind immer noch mehr als 3 Millionen explosiven Gegenständen irgendwo begraben. Ein großes Problem beim Räumen der Landminen sind fehlende Pläne und Dokumentation.“

Er legte die Zeitung auf den Schoß und wiederholte es für sich „DREI MILIONEN!“. Bosnien und Herzegowina hat etwas mehr als 3 Millionen Einwohner. Das heißt, auf fast jeden Einwohner kommt eine Mine oder Bombe! Er lebte zwar nicht dort aber er ist ein Bosnier. Irgendwo in den Bergen Bosniens war „seine“ Mine und wartete darauf aktiviert zu werden!

Drei Millionen Mörder waren noch dort nach dem Krieg, den er nicht wollte und nicht führte. Er hatte seine Heimat verlassen, bevor das ganze Chaos begann. Der Krieg begann für ihn mit den Fernsehbildern maskierter Gestalten auf den Straßen seiner Heimatstadt. Die Kriegsjahre waren Jahre der Verzweiflung, Tränen, Angst… Angst um seine Eltern und andere liebe Menschen.

Es sind Narben nach dem Krieg geblieben. Und Minen! Er versuchte sich vorzustellen, wie es aussehen würde, wenn man alle Minen sammeln würde. Das wäre ein Berg von dem man die Sonne nicht sehen könnte. In diesem Berg wäre auch seine Mine. Er hat sich gefragt, wie sie aussieht. Er hat in der Armee schon verschiedenen Minen gesehen, wie ein Teller, oder eine Birne, auf einem Stock befestigt… Er wusste nicht viel über Waffen, denn in der Jugoslawische Armee war er Funker. Nur einmal hatte er bei einer Übung geschossen und eine Handgranate geworfen.

DREI MILLIONEN!!! Wieviel unschuldige Menschen, von allem Kinder noch sterben oder verletzt werden! Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dieses Land irgendwann frei von Minen sein wird.

Manchmal dachte er, warum machte er sich so viele Gedanken.  Er hatte am Krieg nicht teilgenommen und keine Mine vergraben. Andererseits, was hat er eigentlich für seinen Heimat gemacht? Er hat Geld gespendet, aus Protest einen Hungerstreik gemacht… Aber, war das genug? Er hatte ein schlechtes Gewissen. Irgendwo lag „seine“ Mine, die vielleicht ein Kind töten oder schwer verletzen könnte. Außer, er findet sie. Dieser Gedanke ließ ihn nicht in Ruhe.

Er musste die verdammte Mine finden!

+++

Er stieg aus dem Bus in einer kleinen Stadt die er gut kannte. Der Krieg hat Spuren an Leuten und der Stadt hinterlassen. Die Leute liefen mit traurigen Gesichtern und teilweise in Militäruniformen bekleidet. Er kaufte Lebensmittel und Sachen die er wahrscheinlich brauchen könnte und machte sich auf dem Weg ins Dorf, wo er seine Schulferien beim Opa verbrachte. Er hatte schon gehört, dass das Dorf zerstört war. Er traute sich nicht die Abkürzung zu nehmen, die er als Kind immer benutzte. Er ging die Straße entlang, wo er im Winter gerodelt war. Die Häuser neben der Straße waren zerstört, verbrannt, menschenleer. Er hielt an eine Kurve, von wo man die ganze Stadt sehen konnte. Er fühlte, dass Irgendwas in der Luft lag, dass die Stadt und ihn selber bedrückte. Auf dem Weg zum Dorf besuchte er den Friedhof, auf dem viele seiner Verwandten lagen.

Er bog von der Hauptstraße ab, auf den kleinen Weg zum Dorf. Auf diesem Weg hatte er mit Dorfkindern Fußball gespielt. Das war die einzige einigermaßen ebene Stelle, denn das Dorf lag in den Bergen. Neben dem Weg ging es steil ab und oft ist der Ball durch den Zaun durchgekommen und landete weit weg unten im Busch. Der, der als letzte den Ball spielte, musste den Berg hinunter, um den Ball zu holen. Es passierte schon, dass er den Ball holen musste, während die Anderen im Grass lagen und sich köstlich amüsierten. Sie hatten keine Lederbälle, sondern Bälle aus Plastik wodurch diese wie wild herumsprangen. Neben dem Weg war immer noch ein alter Birnenbaum mit sehr leckeren und süßen Birnen. Der Besitzer war sehr böse, wenn er Kinder beim Birnenklauen erwischte. Auf dem Weg lagen abgefallene Birnen und er sammelte sie und aß sie. Sie schmeckten lecker, wie früher. Das Haus des alten Mannes war jetzt ohne Dach und mit schwarzen Wänden. Auch andere Häuser, die er sah, waren ohne Dächer, Fenster… Es war toten Stille. Er konnte keine Vögel oder andere Tiere sehen. Nur Fliegen.  Die Pflaumenbäume in Obstgärten bogen sich unter der Last der Fruchte. Als Kind sammelte er Pflaumen und sein Opa brannte Sliwowitz und die Oma machte leckere Marmelade. Schnapsbrennen war immer ein besonderes Ereignis. Männer aus dem Dorf kamen zum Helfen, tranken Schnaps, aßen geräuchertes Fleisch und erzählten Geschichten von Früher. Je mehr sie tranken, desto wilder und spannender waren die Geschichten, größer das gejagte Wild und schöner die geküssten Frauen.

Er kam ans Ende der kleinen Straße, die zum Haus seines Opas führte. Das Haus war nicht mehr da. Er sah nur Ruinen. Das war ein einfaches Holzhaus, von seinen Opa gebaut. Nur der Keller hatte Wände aus Stein und das war das Einzige was noch an ein Haus erinnerte. Der Stall für Kühe, Schweine, Hühner war auch nicht mehr da. Wilde Büsche waren überall und man konnte nur erahnen, wo der Weg zur Wasserquelle und dem Wald führte. Er hatte gehört, dass nicht weit im Wald die Abwehrlinie mit den Schutzgräben war. Er ging zur Wasserquelle sich zu erfrischen. Das Wasser kam durch ein Rohr aus dem Betontank und war schön kalt und erfrischend. Er ging zu Mitte des Hofes, schloss die Augen und versuchte sich an das Haus zu erinnern. Das Haus war weiß mit großer Veranda und Treppen, die zum Dachboden führten. Er war oft auf dem Dachboden, wenn Oma und Opa nicht zu Hause waren. Es war sehr spannend alte Holzkisten zu durchwühlen. In einer Kiste hatte er erotische Magazine gefunden, die sein Onkel dort deponierte. Er hatte sie heimlich genommen und anderen Dorfkinder gezeigt. Das war eine große Sensation, weil keines der Kinder zuvor eine nackte Frau gesehen hatte.

Das Haus hatte einen großen Raum mit einem Herd, Tisch und einem Diwan, wo der Opa die meiste Zeit saß und rauchte. Neben dem Fenster stand das Fernsehgerät. Viele Jahre lang war es das einzige Fernsehergerät im Dorf. Viele Dorfbewohner kamen samstags Volksmusik oder Western Filme zu schauen. Besondere Ereignisse waren die Boxkämpfe von Mohammed Ali. Die Übertragungen waren in der Mitte der Nacht. Er schlief nicht und beobachtete durch das Fenster, wie sich Männer mit Taschenlampen aus Dorfhäusern auf den Weg zu Opas Haus machten. Das Haus hatte noch zwei große Schlafzimmer und eine Abstellkammer. Viele Jahre gabs nur ein Plumpsklo. Er hatte Angst nachts hinzugehen und versuchte es bis zum Morgen auszuhalten. Wenn es nicht ging, hatte er von der Veranda in den Hof gepinkelt. Später wurde ein Bad mit Klo im Haus gebaut. Neben dem Haus war der Stall für die Tiere und ein Heuschuppen. Er hatte an dem Heuschuppen einen Korb befestigt um Basketball zu spielen.

Er öffnete die Augen. Alles, was er in seinen Erinnerungen hatte, war nicht mehr da. Beim durchstöbern der Ruinen fand er eine rostige Sichel. Mit dieser befreite er eine Ecke der Ruinen vom Busch. Aus Angst vor Schlangen entzündete er Gummistiefel, den er im Busch fand. Von seinem Opa hatte er gehört, dass Schlangen diesen Geruch nicht mögen. Er fand auch eine großes Stück Wellblech, aus welchem das Dach des Hauses gemacht war. Er legte das Blech über die Ecke, welche er zuvor vom Busch befreit hatte. Nun hatte er ein Dach über den Kopf. Die mitgebrachten Sachen hängte er an Wänden auf, so dass sie von Mäusen nicht beschädigt werden konnten. In der ehemaligen Räucherkammer zündete er Feuer an und machte eine mitgebrachte Dose mit Bohnensuppe warm. Es war schon dunkel und er legte sich in seinen Schlafsack. Er war sehr müde.

Am nächsten Morgen stand er durchgefroren und nicht ausgeschlafen auf. Es tat ihm alles weh. Das letztes Mal schlief er im Schlafsack auf dem Boden als er mit Freunden Urlaub an der Adria Küste machte. Das war schon lange hier und er war sehr Jung. Damals macht es ihm nichts aus, aber jetzt war er schon am Anfang des Tages kaputt. Er saß neben dem Feuer und fragte sich, was er eigentlich hier machte. Er konnte jetzt ausgeschlafen zu Hause sitzen und mit seiner Frau einen Kaffee trinken. Er hatte keinen Plan, wie er das was er vorhatte, umsetzen sollte. Er traf oft Entscheidungen aus dem Bauch heraus ohne über die Folgen und Konsequenzen nachzudenken.

Er ging den Weg in die Richtung der anderen Häuser im Dorf. Das war ein typisches bosnisches Dorf in den Bergen. Jeder Bauer hat sein Haus auf seinem Land gebaut und die Häuser waren sehr weit auseinander. Kein Wunder, dass die Infrastruktur sehr schlecht war. Man musste sehr lange Wasser- oder Stromleitungen bauen. Er hoffte jemanden in den Häusern zu finden. Niemand war da. Er stand neben dem großen Wallnussbaum bei einem Nachbarn. Er erinnerte sich an eine Schaukel, die an dem Baum befestigt war. Oft saß er freitags auf der Schaukel, darauf wartend die Lichter des Autos seines Vaters zu sehen und sang Lieder, die er sich ausdachte und die er nie mehr wiederholen konnte. Vom Baum konnte er Wiesen sehen auf welchen er zusammen mit den Dorfkindern auf Kühe und Schafe aufpasste. Die Dorfkinder hatten nie die große Stadt oder das Meer gesehen. Mit weit offenen Augen hörten sie zu, wenn er von hohen Häusern und endlosem Wasser erzählte. Im Winter fuhren sie Ski auf den Wiesen. Er hatte als Einziger „richtige“ Ski, die er von seinem Onkel aus Deutschland bekam. Das waren alte Ski zum Skispringen und er hatte keine passenden Schuhe dazu. Andere Kinder hatten Holzbretter genommen, diese ins Wasser getränkt und die Spitze gespreizt, sodass die gebeugt waren. Die Spitzen alter Gummistiefel wurde auf den Skiern befestigt, sodass man die Füße einstecken konnte. Keiner konnte mit Ski Kurven fahren oder Bremsen. Sie fuhren immer geradeaus bis sie auf dem gestreuten Heu stehen blieben. Es machte viel Spaß.

Er ging zu anderen Häusern im Dorf und fand keinen Menschen. Er fragte sich, wo alle waren. Leben sie überhaupt noch? Er hatte Glück, dass er schon im Ausland war, als der Krieg begann. Und jetzt war er da. Er und seine Mine. Er hatte keine Ahnung, was er machen sollte, wenn er sie finden würde. Wie aktiviert man eine Mine? Irgendwas ziehen? Klopfen? Sollte er alles abbrechen und nach Hause fahren? Keiner hätte gewusst, dass er dagewesen war. Aber, er wusste es!

Tage vergingen mit Rumlaufen und den aufkommenden Erinnerungen. Er traute sich nicht in den Wald zu gehen, wo heftige Kämpfe stattgefunden hatten. Er war zunehmend Müde und unsicher, was er eigentlich hier tat.

 

Und dann…

 

Er ging zu der Wasserquelle um frisches Wasser zu holen und merkte, dass er mit dem Fuß etwas bewegte. Er teilte das hohe Grass und sah eine Handgranate. Zusammenzuckend schrak er zurück. Sein Herz klopfte wie verrückt in seiner Brust. Er drehte sich um zu sehen, ob noch etwas da lag. Er wunderte sich, dass er die Granate nicht schon früher gesehen hatte, da er jeden Tag mehrmals Wasser von der Quelle holte. Die Granate war schmutzig von Erde, hatte einen Ring und einen Hebel. Er war sich nicht sicher, aber so eine hatte er aktiviert und geworfen, als er in der Armee war. Aber damals war ein Offizier dabei. Jetzt ist er alleine mit ihr, der Granate. Er versuchte sich zu erinnern, wie er es damals gemacht hatte. Wie lange dauerte es zwischen dem Ziehen der Sicherung und der Explosion? 2-3 Sekunden? Er hatte keine Ahnung. Er sah viele Kriegsfilme mit Partisanen, die Granaten warfen wie Tennisbälle. Es sah so einfach aus.

Er ging zurück zu der Ruine und beschloss zu schlafen und am nächsten Tag die Entscheidung zu treffen. Die ganze Nacht tat er kein Auge zu. Jetzt hatte er das was er wollte. Die Granate hatte bestimmt ein Soldat verloren, als er Wasser holen wollte. Wenn er nichts tat, es könnte passieren, dass ein Kind beim Wasser trinken die Bombe findet und aktiviert! Warum musste er eigentlich diesen Artikel über Minen in Bosnien lesen? Verdammt! Er konnte jetzt rasiert, sauber in der warmen Wohnung mit seiner Frau sitzen! Nur, jetzt gab es kein zurück. Er musste das machen, wofür er eigentlich gekommen war.

Er sammelte seine Sachen zusammen und brachte sie zum Walnussbaum. Langsam ging er zu der Wasserquelle, in der Hoffnung, die Granate nicht mehr zu finden. Das wäre eine Lösung. Aber, sie lag immer noch da, wo er sie gefunden hatte. Er hockte sich neben die Granate und überlegte zu beten. Er war nicht religiös und kannte kein Gebet. Seine Hände waren zittrig und nass vom Schweiß.  Er trocknete die Hände an seinen Hosen, teilte das Grass und fasste vorsichtig die Granate an. Er dachte, sein Herz würde aus der Brust springen. Er spürte im Kopf, wie sein Herz schlug. Die Granate war nass und kalt. Er hob sie vorsichtig langsam, als ob er ein Küken in Händen hielte und nicht eine Waffe gemacht Menschen, zu töten. Sie war nicht schwer, aber er hatte das Gefühl, dass sein ganzes Leben mit Freude, Trauer, Lachen und Tränen in seinen Händen lag.

Langsam, ohne den Blick von der Granate zu wenden, schritt er den schmalen Weg bis zu Ruine. Er schaute immer wieder wohin er seinem Fuß setzte. Der Schweiß lief von der Stirn in seine Augen aber er traute sich nicht die Stirn abzuwischen. Der Weg dauerte eine Ewigkeit. Am Ende des Weges stand er mit dem Gesicht zur Ruine und mit dem Rücken zur kleinen Straße. Er hoffte nicht niesen zu müssen. Das wäre tödlich.

Mit der linken Hand griff er fest die Granate und drückte den Hebel durch. Die rechte Hand wischte er an seinen Hosen ab und mit dem Zeigefinger griff den Ring der Sicherung. Er schloss die Augen, atmete tief ein und zog an dem Ring. Die Sicherung blieb frei in der Hand. Er wusste, jetzt gibt es kein zurück. Er öffnete seine Augen und schaute auf die Granate in der linken und die Sicherung in der rechten Hand. Er hörte sich selbst, wie er schrie. Mit beiden Händen warf er die Granate in die Ruine, drehte sich um und rannte den Weg in die Richtung des Walnussbaums. Er hatte das Gefühl, dass sich der Baum immer weiter von ihm entfernt, statt dass er ihm näherkommt. Als er endlich ankam, setzte er sich hinter den Baum. Sein Herz pochte. Es passierte nichts. Er fragte sich, ob die Granate schon explodiert war und er es nicht mitbekommen hatte. War sie kaputt oder ein Blindgänger?  Er war sich sicher, dass er nicht zurück gehen würde, um dies zu prüfen. Er zitterte und atmete schwer.

Als er dachte, es würde nicht mehr passieren, hörte er einen gedämpften Knall.

+ + +

Er öffnete die Wohnungstür und atmete erleichtert auf, nahm den Telefonhörer und wählte das Büro seiner Frau. Als er ihre Stimme hörte, sagte:

„Ich bin zu Hause!“