Der Indianer  oder  Wie ich Deutsch lernte

Der Indianer oder Wie ich Deutsch lernte

Die ersten Wörter der deutschen Sprache lernte ich schon als Kind. Das waren die  Wörter: „Los“, „Banditen“, „Hilfe“, „Attacke“…., die deutsche Soldaten in den Kriegsfilmen schrieen. Wir machten diese Filme in unseren Kriegsspielen nach, aber keiner wollte „Švabo“ sein. In meiner ehemaligen Heimat lebten Banat- Schwaben und so sind alle Deutschen für uns die Schwaben – „Švabe“. Ich war immer der Freiheitskämpfer, der mit dem letzten Schrei: „Naprijed drugovi!“ (Vorwärts Kameraden!), „Živjela sloboda!“ (Es lebe die Freiheit!) im Gefecht fiel. So oft starb ich als Held, dass ich mindestens einen Orden verdient hätte.

Den ersten Satz lernte ich natürlich wieder mit Hilfe eines Films. Es gab einen Film über Kinder, die beim Spielen ein Weizenfeld anzündeten. Von der Gestapo wurde ein Student, ein Untergrundkämpfer, dafür beschuldigt und verhaftet. Schützer, der Mann von der Gestapo, glaubte den Kindern nicht, dass sie das gemacht hatten. Er schickte einen Soldaten mit einer Trommel auf den Marktplatz des Dorfes und er trommelte und schrie:“ Es wird bekannt gegeben…!!!“ und er gab bekannt, dass der Student hingerichtet werde. Ich heulte und schwor eines Tages Student zu werden. Wenn mich Erwachsene später fragten, was ich werden möchte, antwortete ich: „Student!“

Das geschah auch nach vielen Jahren. Nena mit ihren Luftballons und die Show „Der Preis ist heiß“ brachten mir die Zahlen bei. Die Obstsorten lernte ich von der Tutti-Frutti-Show. Das ging nicht so leicht, weil ich einerseits von Mädchen abgelenkt wurde, andererseits schliefen meine Eltern um diese Uhrzeit schon und das Fernsehen leiser laufen musste.

Nach dem Ausbruch des Krieges in Slowenien und Kroatien bekam ich einen Brief von den Herren Generalen, wo sie mich zu ihren „Kriegspielen“ einluden. Ich sollte in diesen Spielen „Švabo“ sein! In meinem Kriegsspiel war ich immer ein Kämpfer für die Gerechtigkeit und die Freiheit gewesen, und jetzt sollte ich andere Leuten ihrer Freiheit berauben und vielleicht irgendwo am Marktplatz trommeln und „Es wird bekannt gegeben…“ schreien! In diesem Spiel wollte ich nicht mitspielen.

Das Versteckspiel mit der Militärpolizei dauerte zwei Monate und als es zu heiß wurde, kaufte ich ein Serbokroatisch-Deutsches Wörterbuch und fuhr über Ungarn zu meinem Onkel und meiner Tante nach München. Ich hatte die Absicht, schon nach ein paar Wochen zurückzufahren und ein Geschäft in Sarajewo aufzumachen. Die Situation in Bosnien aber wurde jeden Tag schlimmer und schlimmer, so dass sich meine Rückkehr immer wieder verzögerte. Die ungewissen Tage verbrachte ich damit, mit dem Hollandrad meine Tante quer durch das München zu fahren. Bei schlechtem Wetter blieb ich zu Hause und klebte Zettel mit den jeweiligen deutschen Namen auf die Gegenstände, die in der Wohnung waren. Bevor die Tante nach Hause kam, machte ich sie weg und am nächsten Morgen klebte ich sie wieder auf.

Im Frühling brach der Krieg auch in Bosnien aus. Im Fernsehen sah ich maskierte Männer mit Kalaschnikows in den Händen vor dem Haus, wo meine Eltern und ich wohnten. Jeder Kontakt mit meiner Eltern, meinem Bruder, meinen Verwandten und Freunden war abgebrochen. Aus Verzweiflung und Hilflosigkeit machte ich einen Hungerstreik auf dem Marienplatz und versuchte den Leuten auf Englisch zu erzählen, worum es in Bosnien ging. Nach meiner Anerkennung als Flüchtling durfte ich auch arbeiten. Beim ADAC bewarb ich mich als Küchenhilfe, aber ich  bekam eine Stelle als Aushilfe in der Kuvertierung. Der Meister, bei dem ich arbeitete, war ein echter Bayer und konnte mir beim Deutschlernen nicht viel helfen. Er versuchte zwar mit mir zu kommunizieren -„Du gut sleepen?“-, aber seine Englisch- und meine Deutschkenntnisse reichten nicht aus. Er schimpfte den ganzen Tag und ich wusste nicht warum. Die Maschine putzte ich jeden Tag nach Feierabend – obwohl ich nicht musste –  nur dass er mit mir zufrieden war. Erst später wurde mir klar dass seine schlechte Laune nichts mit mir zu tun hatte. Er war einfach ein immer schlecht gelaunter Mensch.

Ich stürzte mich in die Arbeit. Nach der Arbeit beim ADAC, putzte ich 2000qm Büroräume bei Siemens. Am Wochenende fuhr ich Pizza aus. Zum Deutschlernen blieb mir wenig Zeit. Ich lernte während der Arbeit an der Maschine. Am Abend schaffte ich es gerade noch die Nachrichten aus Bosnien bei Radio Köln zu verfolgen. Vor der Sendung in bosnischer Sprache lief Sendung auf Spanisch, so dass ich auch etwas Spanisch lernte: „Hasta maňana a la misma hora. Buenos Noches!“

Bald war ich soweit, dass ich die Bild-Zeitung lesen konnte.

Eines Tages stürzte ein Flugzeug in Südamerika ab und dabei starben 165 Menschen. Ich kaufte am nächsten Tag die Bild-Zeitung und sah auf der Titelseite ein Foto mit einer Blondine und einem Indianer. Die Überschrift lautete: “ Der Indianer ist weg!“ Die Nachricht über den Flugzeugabsturz stand erst auf Seite vier, zusammengefasst in drei Zeilen. Mir war der Indianer unbekannt und ich dachte, dass er bestimmt ein sehr wichtiger Mann war, wenn schon die Nachricht über seiner Verschwinden wichtiger war als der Tod von 165 Menschen. Aus dem Artikel erfuhr ich, dass die Blondine eine Schauspielerin war und dass der Indianer sie verlassen hatte (was ich verstehen konnte).

Ich kaufte nie wieder die Bild-Zeitung.

Mein Deutsch machte kleine Forschritte. Als ich das erste Mal eine Radioübertragung eines Fußballspiels verfolgen konnte, war mir klar, dass ich Deutsch inzwischen ein wenig beherrschte.

Irgendwann später sah ich im Vorbeigehen auf der Titelseite der Bild-Zeitung das Foto eines Mannes, der mir bekannt vorkam. Das war der Indianer! Die Überschrift lautete: „ Der Indianer ist zurück!“. Wie erleichtert  ich nur war! Gott sei Dank! Jetzt war die Welt wieder in Ordnung.

Der Krieg in Bosnien dauerte noch fast zwei Jahre.

Ich verliebte mich und blieb in Deutschland.

Meine Freunde in Bosnien nennen mich jetzt: Švabo.